DIVINO - Das Magazin | N° 2/2019 Herbst - Winter

[divino-opfer] Heute ist es modern, sich als Opfer zu fühlen. Landwirte fühlen sich als Opfer einer verfehlten Politik. Winzer fühlen sich als Opfer der vielen Vorschriften, die ständig aus Brüssel kommen. Ein Mann fühlt sich als Opfer seiner Firma, in der er sich ausgenutzt und zu wenig geachtet fühlt. Eine Frau fühlt sich als Opfer ihres Mannes, der nicht bereit ist, mit ihr über seine Gefühle zu sprechen. Andere fühlen sich als Opfer einer Erziehung, in der sie von den Eltern nicht verstanden und verletzt wurden. Ob wir wollen oder nicht, wir werden immer wieder einmal Opfer werden von Verletzung, Verleumdung oder Missachtung. Aber wir dürfen nicht in der Opferrolle bleiben. Denn wenn wir in der Opferrolle bleiben, geht von uns eine aggressive Energie aus. Das Opfer wird selber leicht zum Täter. Ein Freund von mir ist Therapeut. Er erzählte mir: Eine Kollegin in seinem Team fühlt sich immer als Opfer und tyrannisiert damit das ganze Team. Wenn ich mich in der Familie als Opfer fühle, dann übe ich damit Macht über die Familie aus. Ich vermittle den anderen ständig ein schlechtes Gewissen. Und ich beschuldige die anderen, dass sie daran schuld sind, dass es mir so schlecht geht. Daher ist es wichtig, immer wieder Abschied zu nehmen von der Opferrolle, wie Verena Kast das in ihrem Buch „Abschied von der Opferrolle“ beschrieben hat. Es gibt immer einen Spielraum, in dem ich selbst aktiv werden kann. Statt mich als Opfer meiner Firma zu fühlen, kann ich selber die Atmosphäre in der Firma mitgestalten, zumindest in dem Bereich, in dem ich arbeite. Statt mich als Opfer meines Mannes zu verstehen, der zu wenig Zeit für mich hat, kann ich selbst für mich sorgen. Ich tue das, was mir gut tut. Indem ich für mich sorge, bleibe ich nicht in der Opferrolle stecken. Ich übernehme selber Verantwortung für mich. Doch heute scheuen sich viele Menschen davor, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Lieber bleiben sie in der Opferrolle. Dann können sie weiterhin in der Illusion leben, dass nur die anderen daran schuld sind, dass es ihnen so schlecht geht. Doch ob es mir gut geht oder nicht, liegt in meiner eigenen Verantwortung. pater dr. anSelM Grün, aBtei MünSterSchWarzach anselm Grün oSB (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm Grün) ist deutscher Benediktinerpater, autor spiritueller Bücher, referent zu spirituellen themen, geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Kontemplation und geistliches leben. Mit rund 300 lieferbaren titeln, die bisher in einer Gesamtauflage von über 14 Millionen weltweit verkauft wurden, ist pater anselm Grün einer der meistgelesenen deutschen autoren der Gegenwart. Seine Bücher wurden in dreißig Sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de 34 35 Nº 2 / 2019 pater anSelMS KolUMne

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