DIVINO - Das Magazin | N° 2/2023 Herbst-Winter

[divino-schmecken] Wir trinken den Wein nicht einfach, wir schmecken ihn. Das Schmecken hat in der religiösen Tradition immer einen spirituellen Sinn. Der französische Schriftsteller Marcel Proust beschreibt, dass er beim Essen eines süßen Kuchens eine mystische Erfahrung gemacht hat: „In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ Wir können solche spirituellen Erfahrungen beim Schmecken eines Schluckes Wein nicht machen. Aber wenn wir ganz im Schmecken sind, ahnen wir etwas von dieser mystischen Erfahrung, die Marcel Proust gemacht hat. In diesem Augenblick wusste der Schriftsteller: Ich werde niemals mehr allein sein. Ich bin verbunden mit einer Wirklichkeit, die größer ist als ich. In der christlichen Tradition gab es eine eigene mystische Strömung der „dulcedo dei“, der Süßigkeit Gottes“. Es war vor allem die Frauenmystik des Mittelalters, die von der Süßigkeit Gottes sprach, den die Frauen bei der Kommunion in der Eucharistiefeier empfanden. Die Frauenmystik verstand, dass Gott nicht in erster Linie der ist, der von uns etwas fordert, sondern der Gott, den wir genießen dürfen. Die „fruitio Dei“, das Genießen Gottes ist das Ziel des geistlichen Weges. Die Römer verbinden das Schmecken mit der Weisheit. Sapientia = Weisheit, kommt von sapere = schmecken. Weise ist also der Mensch, der sich selbst schmecken, der sich selber annehmen kann, der im Einklang ist mit sich selbst. Von so einem Menschen geht dann auch ein guter Geschmack aus. Wir sagen oft nach einem Gespräch: Es hat einen guten oder einen faden oder unangenehmen Nachgeschmack. Sowohl die philosophische Tradition der Römer als auch die mystische Tradition im Christentum zeigen uns, dass das Schmecken einen tieferen Sinn hat. Im Schmecken kann uns etwas aufgehen vom Geheimnis des Menschen, der eins geworden ist mit sich selbst, als auch von Gott, der ein Gott ist, der sich schmecken lässt, der einen süßen Geschmack hat, einen Geschmack, der uns über uns hinaushebt in eine Welt von Glück und Frieden. PATER DR. ANSELM GRÜN ABTEI MÜNSTERSCHWARZACH Anselm Grün OSB (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm Grün) ist deutscher Benediktinerpater, Autor spiritueller Bücher, Referent zu spirituellen Themen, geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Kontemplation und geistliches Leben. Mit rund 300 lieferbaren Titeln, die bisher in einer Gesamtauflage von über 14 Millionen Exemplaren weltweit verkauft wurden, ist Pater Anselm Grün einer der meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher wurden in dreißig Sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de PATER DR. ANSELM GRÜN DIVINO MAGAZIN·Nº 2/2023 19 PATER ANSELMS KOLUMNE

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