[divino-versöhnung] In den letzten Monaten haben wir erlebt, dass sich die Gesellschaft immer mehr spaltet. Freundschaften zerbrechen über die Frage „Impfen oder nicht“. In manchen Familien kann man über dieses Thema nicht mehr diskutieren, ähnlich in Firmen. Man weigert sich, mit dem, der anderer Meinung ist, zu sprechen, auf seine Argumente und auf die Ängste zu hören, die hinter der Meinung stehen. Wir haben den Ruf Jesu zur Versöhnung bitter nötig. Das lateinische Wort „reconciliatio“ meint: wieder zu einem Miteinander führen. Zerstrittene Menschen kann nur der miteinander versöhnen, der mit sich selbst versöhnt ist. In sich gespaltene Menschen spalten eine Gemeinschaft. Es braucht viel Mut, sich mit sich selbst zu versöhnen. Denn das verlangt, dass ich mich mit meiner Lebensgeschichte aussöhne und mit all den Verletzungen, die ich erlitten habe. Und es braucht die Versöhnung mit seinen Schattenseiten. Wenn wir so heftig auf die Meinung anderer reagieren, dann hat das oft die Ursache darin, dass der andere unsere Schattenseite berührt. Unsere Meinungen sind nie nur objektiv. Sie haben oft genug ihren Grund in unserer Lebensgeschichte und in dem, was wir verdrängt haben. Statt zu diskutieren, wer denn Recht hat mit seiner Meinung, wäre es hilfreich, nach den Ängsten zu fragen, die hinter der jeweiligen Meinung stehen. Dann wird das Gespräch ehrlicher und persönlicher. Dann kämpfen wir nicht mehr gegeneinander, sondern versuchen, uns selbst und den anderen zu verstehen. Wenn Menschen bereit sind, einander zu verstehen, dann ist Versöhnung möglich, auch wenn die gegensätzlichen Meinungen bestehen bleiben. Wir respektieren dann den anderen, ohne dass wir seine Meinung teilen. Wenn wir nach den unbewussten Voraussetzungen unserer Meinungen fragen, wird ein versöhntes Miteinander trotz aller Differenzen möglich. Die Bedingung für die Versöhnung ist, dass wir uns von Gott ganz und gar angenommen fühlen. Dann werden wir auch fähig, den andern anzunehmen, weil auch er von Gott angenommen ist. PATER DR. ANSELM GRÜN, ABTEI MÜNSTERSCHWARZACH Anselm Grün OSB (geb. am 14. Januar 1945 im fränkischen Junkershausen als Wilhelm Grün) ist deutscher Benediktinerpater, Autor spiritueller Bücher, Referent zu spirituellen Themen, geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Kontemplation und geistliches Leben. Mit rund 300 lieferbaren Titeln, die bisher in einer Gesamtauflage von über 14 Millionen weltweit verkauf t wurden, ist Pater Anselm Grün einer der meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwar t. Seine Bücher wurden in dreißig Sprachen übersetzt. www.anselm-gruen.de DIVINO MAGAZIN·Nº 1/2022 43 PATER ANSELMS KOLUMNE
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